Rüdiger Ebbinghaus über Kindheit und Jugend nach Kriegsende in Friedrichshagen

Vier Monate nach Kriegsende wurde ich am 1. September 1945 in die 10. Grundschule am Markt in Friedrichshagen eingeschult. Wir waren 60 Schüler in der Klasse (es waren ja Schulen von den Russen besetzt, daher hatten wir auch Schichtunterricht) und zur Einschulung bekamen wir jeder einen Keks. In dieser Hungerzeit! Der Vater des Mitschülers Schubert hatte in Friedrichshagen eine Bäckerei* und hatte offenbar die Zutaten dafür „abzweigen“ können. So etwas wurde schwer bestraft!

Klassenlehrerin war Frau Sokoslowsky. Einmal kann ein Junge aus einer höheren Klasse in den Unterricht und überbrachte eine Nachricht. Als er wieder ging, erhob er den Arm zum Deutschen Gruß, wie er es gelernt hatte. Frau Sokoslowsky fragte ihn: „Wie heißt du? Welche Klasse?“ und schickte ihn weg. Wir wussten damals, dass so etwas bedeuten konnte, dass die Eltern nach Sibirien kamen.

Fräulein Jahnke war unsere Musiklehrerin, aus unserer Sicht als Kinder auch eine ältere Frau. Sie spielte uns gerne auf ihrer Mandoline vor. Einmal spielte sie den Schlager von den Capri-Fischern und sang den Text dazu. Als ich das meiner Mutter erzählte, war sie außer sich und bestritt das. So etwas gäbe es in der Schule nicht! Wir haben noch mehrmals darüber gestritten, meine Mutter wollte das einfach nicht glauben.

Nachmittags oder eben vormittags stromerten wir draußen umher und fanden fast täglich Waffen und Munition. Oft spielten wir in den zerstörten Panzern, die z.B. in der „Beamtensiedlung“ herumstanden. Unsere Eltern warnten uns immer wieder, sie hatten große Angst um uns Kinder. Da soll es vorgekommen sein, dass Kinder in die Panzer hineinkrochen, die Luken zufielen und die Kinder erstickten.

Einmal legte ich eine größere Patrone von irgendeiner Waffe auf die Schiene unter eine gerade haltende Straßenbahn. Der Fahrer hatte das aber gesehen, sprang heraus und haute mir eine!

Im besonders strengen Winter 1946/47 fuhr mich meine Mutter mit dem Schlitten durch den tiefen Schnee in die Schule und holte mich auch so wieder ab. Ich hatte keine Schuhe zum Anziehen und musste mit „Holzpantinen“ durch den Winter kommen. Das waren flache Holzsohlen mit Riemchen.

In der Schule bekamen wir Schulspeisung, das war oft die wesentliche Mahlzeit am Tage. Häufig gab es Milchsuppe (Mehl, Grieß, Haferflocken) und die war fast immer sauer. Angeliefert wurde das Essen in Thermophoren, die vielleicht 60 bis 80 Liter fassten. Die Suppe wurde uns in Aluminium-Geschirre gefüllt, die wie die Thermophoren noch von der Wehrmacht stammten.

Unsere Lehrer waren Frauen und alte Männer. Die jüngeren Männer waren in Gefangenschaft irgendwo in der Welt. Dazu kam, dass viele Lehrer wegen ihrer Nähe zu den Nazis vom Schuldienst suspendiert waren.

Im vierten Schuljahr (1948) wurden Klassen aus Jungen und Mädchen gebildet. Vor allem unsere Lehrerin Frau Gäbler zog nach meinem Empfinden die Mädchen den Jungen stark vor, was vielleicht damit zusammenhing, dass die Jungen in der Nachkriegszeit oft besonders frech und aggressiv waren. Jedenfalls habe ich darunter sehr gelitten und die „ Weiber“ überhaupt nicht gemocht! Viele Schüler waren kriegsbedingt um drei oder vier Jahre überaltert.

Mit Beginn der 5. Klasse wurde im September 1949 flächendeckend Russisch-Unterricht eingeführt. Russisch war ja zweifelsfrei die kommende Weltsprache! Unsere Lehrerin Frau Eifler war von Beruf Hausfrau. Sie war am Kriegsende aus dem Baltikum vertrieben worden und brachte von dort ein paar Russisch-Kenntnisse mit. Auf diesem Niveau fand der Russisch-Unterricht statt. Man brauchte ja auf einen Schlag viele tausend Russischlehrer, die es bis dahin so gut wie nicht gab. Wer hat damals schon Russisch gelernt…

*Der Vater von Schubert hatte seine Bäckerei in der Bölschestraße Ecke Schmaler Weg. Heute ist dort immer noch eine Bäckerei, über dem Eingang ist noch die alte Beschriftung "Feinbäckerei" erhalten. Überflüssig zu erwähnen, daß wir zur Einschulung sonst gar nichts bekommen haben in dieser Notzeit, schon gar nicht eine Schultüte.