Wolf Biermanns "Exil" in Friedrichshagen

Charlotte E. Pauly u. Wolf Biermann

Ende der 1960er Jahre verbrachte Biermann „inkognito“ einige Tage und Nächte auf dem Dachboden der Bäckerei Liebig. Der Sohn des Bäckermeisters Liebig, Rainer Liebig, erinnert sich an diese Begebenheiten in einem Gespräch mit Adam Bobrowski (ABO):

ABO:
Wie begann eigentlich Wolf Biermanns „Exil“ in Friedrichshagen?

Rainer Liebig:
Die Begebenheit fand zeitgleich mit den Ereignissen rund um den „Prager Frühling“ statt. Ein Freund von Biermann aus dem Umfeld des MfS riet ihm, für einige Zeit „unterzutauchen“. Daraufhin bekam meine Stiefmutter Besuch von ihrer guten Bekannten Frau Dr. Charlotte E. Pauly. Frau Pauly bat meine Stiefmutter, für einige Zeit einen jungen Mann in unserem Gartenhäuschen in Schöneiche unterzubringen. Meine Stiefmutter bot an, den jungen Mann in der „Dienstwohnung“ im oberen Stockwerk der Bäckerei, Scharnweberstraße 46/ Ecke Klutstraße, in Friedrichshagen unterzubringen. Ich studierte damals Elektrotechnik in Dresden und hatte gerade ein Praktikum in Berlin. Als ich abends in die Bäckerei kam, saß am Küchentisch ein junger Mann und las das Neue Deutschland. Dieses verwunderte mich sehr, da dieses Blatt bei uns eigentlich nicht gelesen wurde. Meine Stiefmutter stellte mir den jungen Mann als Herrn Walter Lindemann vor. Damals habe ich mich nicht um Politik und um die begleitende Kultur gekümmert und hatte daher auch keine Ahnung, wie Wolf Biermann aussah. Ich wusste nur von Freunden, dass er gute Texte schreibt.

Biermann im Gespräch mit Pfarrer Gloede


ABO
:
Wie muss man sich den Aufenthalt von Herrn „Lindemann“ denn vorstellen?

Rainer Liebig:
Ja, nun liefen wir uns ja jeden Tag mehrfach über den Weg. Herr Lindemann machte uns in Gesprächen nach und nach mit seinem Lieblingsautor bekannt: Wolf Biermann. Er brachte uns auch die 1968 im Wagenbach-Verlag erschienenen Quarthefte „ Die Drahtharfe“ und „Mit Marx- und Engelszungen“ mit. Ich war von den staatskritischen Gedichten begeistert und hätte den Autor gern selbst kennen gelernt.

ABO:
Hatte Herr „Lindemann“ in dieser Zeit eigentlich auch Besuch?

Rainer Liebig:
Als ich eines Abends Heim kam, saß eine junge schöne Frau mit am Küchentisch. Sie wurde mir von meiner Stiefmutter als Frau Müller vorgestellt. Erst später habe ich erfahren, dass es sich bei Frau Müller um die Schauspielerin Eva-Maria Hagen handelte.

ABO: Wie ging die Geschichte dann weiter?

Biermann und das Brautpaar Liebig vor der Bäckerei

 

Rainer Liebig:
Wir saßen abends oft zusammen, erzählten uns oder sahen fern. Herr Lindemann machte sich oft Notizen und bewahrte sie in einer schönen alten Ledertasche auf. Ich nehme an, dass in seiner Friedrichshagener Zeit auch einige seiner Lieder und Gedichte entstanden sind. Nach ca. 3-4 Wochen verabredeten wir uns zu einem Abend mit Musik und Wein in der Dienstwohnung. Wir redeten offen über dies und jenes, bis Herr Lindemann zu meiner alten Konzertgitarre griff und neues und altes zu Gehöhr brachte. An diesem Abend wurde auch die Identität unseres Gastes gelüftet.
Als sich die Wogen dann etwas geglättet hatten, kehrte Wolf Biermann in die Wohnung in der Chausseestrasse zurück. Wir blieben über die Jahre aber freundschaftlich verbunden. Er war unter anderem Gast bei meiner Hochzeit 1970.

 

Die Fotos, die auf der Hochzeit des Paares Liebig am 30.5.1970 aufgenommen wurden, stellte Rainer Liebieg für dieses Interview freundlicherweise zur Verfügung.